Löwen und Chemiker feiern gemeinsam ihre Wurzeln4 min read
Erster Höhepunkt eines fraglos wieder turbulenten Jahres 2018: Leutzsch gegen Giesing, Grün-Weiß gegen die Blauen, „Chemiker“ gegen „Löwen“. Flutlicht, 90 Minuten Stimmungs-Battle auf den Rängen und ein Testspiel für den guten Zweck. Ein Abend so recht nach dem Geschmack für hoffnungslose Fußball-Romantiker!
Bereits am frühen Morgen hatte sich die große Karawane Richtung München in Bewegung gesetzt, einige hatten die „Weltstadt mit Herz“ bereits am Vorabend in Besitz genommen. Per Sonderzug, Pkw und Bussen waren etwa 1000 Leutzscher angereist, teilweise unter erschwerten Bedingungen: Bereits in Nürnberg waren sämtliche Bierreserven im Zug erschöpft. Die Vorfreude war riesengroß, die Stimmung entsprechend – auch bei den Löwen-Anhängern. Fans beider Vereine fallen durchs Extrem auf, Wahnsinn traf auf Aberwitz, ein Klassentreffen Seelenverwandter. Zu sehen etwa beim gemeinsamen Foto vom Münchener Original „60er Monster“ im wilden Schal-Outfit, mit Ronald, Kerstin und Christian Rehse. Die Ex-Leipziger leben seit der Wende in Heilbronn und reisten eigens zu diesem Spiel an. Oder die Sechz’ger Legende „Murdock“, der seit 1996 kein einziges Spiel seiner Löwen verpasste und erst 712 Spiele später nach dem Abstieg im letzten Jahr die Faxen dicke hatte. Die Querelen rund um den Zwangsabstieg aus Liga 2 hatten ihm den Appetit auf seine Löwen gründlich verdorben. Er befand: „Ein sehr sympathischer Auftritt, Gänsehaut-Feeling, hätte man schon früher machen sollen“. Vom Fanclub West gab es zwei ehemalige Mitglieder, die ausgiebige „Löwen“-Erfahrung haben: Schranke und Steffen. Die beiden gebürtigen Geraer sind bekennende Fans der „Blauen“, Steffen kennt Hinz und Kunz bei den „Sechz’gern“. Gemeinsam mit dem Fanclub Connewitz statteten die beiden ihren bayrischen Spez’ln einen Besuch schon vor dem Spiel ab. Am Fantreffpunkt „Am Grünspitz“ wurde ein erstes Getränk genommen und die ersten Bekanntschaften geschlossen. Derweil kam aus dem Sonderzug die Meldung: Bier alle – bis München noch anderthalb Stunden. Als die Zugfahrer dann am Wettersteinplatz direkt aus der Sonder-U-Bahn stiegen, wartete schon die Polizei – und einige Idioten vor einer Kneipe, die nichts besseres als das völlig bescheuerte „U-Bahn-Lied“ anzustimmen. Das sorgte bei den Leutzschern für Verstimmung, die sich beinahe in handgreiflicher Form manifestiert hätte, doch die Polizei brachte das Ganze schnell unter Kontrolle. Der Rest des Abends fiel wesentlich positiver aus, denn von nun an konzentrierten sich alle auf das Duell mit den Münchner Fans – gesangstechnisch gesehen.
Jens Flemming, Chef des zahlreich angereisten und fast 40 Jahre alten Fanclubs „Connewitz 79“, fand: „Unfassbar, was sich hier bei einem Testspiel abspielt“. Vor allem, woher die Chemiker angereist waren: Tatsächlich aus ganz Deutschland waren sie unterwegs nach München. Allein von den Fanclubs Connewitz und West kamen sie aus Göttingen, Kassel, Stuttgart, Wilhelmshaven, Gera. Auch viele alte Fanclubs waren da, wie z.B. Mitglieder von Pfeffi 07, Leutzsch Legion, Nova, Phönix, Delitzsch, Iron Fist und vielen anderen.
5400 Zuschauer sorgten tatsächlich für einen nicht alltäglichen Rahmen, beide Fanblöcke duellierten sich 90 Minuten im Gesangs-Dauer-Wettstreit. Organisiert von der aktiven Fanszene beider Vereine, spült der Erlös dringend benötigte Mittel für das geplante Flutlicht in Leutzsch in die Kasse.
Zum sportlichen: Aufgrund der Winterzugänge herrscht (endlich) echter Konkurrenzkampf im Kader, das Trainerduo Demuth-Sobottka stellte auf 4-4-2 um, ließ zwei Teams ran. In Hälfte eins zeigten Stelmak und Merkel, dass mit ihnen im Sturm zu rechnen sein wird. Nach dem frühen Rückstand durch Türk (5.) hielt Chemie überraschend gut dagegen, war dem Ausgleich öfters nahe. Bury (27.), Merkel (28.), Stelmak (33.), Kind (61.) und Wajer (80.) scheiterten jeweils nur knapp. Dagegen zeigte Chemie-Neuzugang Heine im Tor, dass er nicht nur einen berühmten Namen trägt, sondern auch was drauf hat, als er zweimal großartig rettete. Da freute sich auch Dietmar Demuth: „Wir haben ordentlich abgeliefert, das macht Mut“.
Sah die 75-jährige Lotte, die als Ordnerin auf der Tribüne Dienst tat und noch zu jedem Auswärtsspiel ihrer 60er fährt, genauso. Sie lobte: „Guad geschbuit vo den Buam, kimmd guad Hoam“. Sahen hunderte Chemiker zumindest teilweise anders – und feierten gemeinsam mit den Löwenfans bis tief in der Nacht in den Giesinger Kneipen. Als der Sonderzug längst wieder in Leipzig eingetroffen war, stießen Schranke, Steffen und die Connewitzer immer noch mit „Murdock“ und seinen Freunden an – auf einen rundum gelungenen Tag, neue Freundschaften und das Rückspiel, das im Sommer stattfinden soll und bereits fest auf dem Terminkalender der Löwenfans verankert ist.