Eine gelungene Zugfahrt oder Als Chemie in Chemnitz spielte11 min read
Als ich nach langer Zeit mal wieder ein Auswärtsspiel meines Lieblingsvereins FC Sachsen alias Chemie Leipzig zu besuchen beschloss, ging es um nichts weniger als um den Pokalsieg. Im ehemaligen Karl-Marx-Stadt galt es, den dort ansässigen Chemnitzer FC zu schlagen. Wir waren eine spektakuläre Truppe, die aufbrach, dem Gegner in die Suppe zu spucken. Da waren Wolle und Ecki, die langhaarigen Erzchemiker. Da war Aurel, der Schauspieler aus dem Schauspielhaus und vom Fernsehen (“Tatort”), der trotz Geburt im Ruhrpott glühender Leutzscher ist. Und auch Clemens Meyer, gefeierter und prämierter Schriftsteller und bekennender Grün-Weißer, war zum Bahnsteig 19 des Hauptbahnhofes geeilt, denn wir wollten eine Art Nostalgiefahrt unternehmen, mit der Eisenbahn – so wie früher.
Es ging eigentlich ganz gut los. Wolle hatte vorausschauend ein paar Fläschlein Bier besorgt und so standen wir bald wohlgelaunt, vollständig versammelt und erwartungsfroh am traditionellen Treffpunkt Blumen-Hanisch. Die ersten Sprechchöre wurden angestimmt, anfangs doch etwas wackelig und dünn – man ist eben aus der Übung, das lässt sich schwerlich abstreiten. Zumindest der Text saß noch… Am Bahnsteig änderte sich die Stimmungslage jedoch schnell. Eine riesige Traube lärmender Menschen, die offensichtlich alle das gleiche Ziel hatten, drängte sich eingangs des Bahnsteigs. Eine dichte Kette resoluter Ordnungswächter stand ihnen im Wege. Jeder wurde penibel durchsucht, Alkohol durfte nicht mitgeführt werden. Aha! DAS also war es, was sich seit meiner letzten Zugreise mit Chemie in den 80ern geändert hatte! Kein Alkohol bei der Anreise. Nach anfänglichem Befremden ging mir die überragende Logik dieser Maßnahme jedoch ein. Geschickt, geschickt. Da braucht man also nur dafür zu sorgen, dass die Auswärtsfahrer sich nicht schon auf der Anreise zudröhnen und schon ist man aller Sorgen ledig. Das nenne ich mal eine gescheite Polizeitaktik! Natürlich nimmt man für so viel Sicherheit die Wartezeit von 30 Minuten in der dichtgedrängten Meute gern in Kauf, aus der man mindestens fünf verschiedene Sorten Alkohol sehr penetrant herausriechen konnte. Mindestens fünf weitere Sorten waren zusätzlich zumindest erahnbar. “Normale” Bürger wurden übrigens an der Seite ohne weitere Belästigungen durchgelassen. Das spornte mich wie in alten Zeiten an, mittels eines improvisierten Streitgespräches mit dem mich durchsuchen wollenden Polizisten die Wartezeit zu verkürzen. Ich wollte als engagierter Bürger von ihm wissen, aus welchem Grunde er mich einer Leibesvisitation unterziehen wolle. Daraus entwickelte sich eine kurze, lustige und ziemlich unlogische Konversation. Er: “Wollen Sie nach Chemitz”? Ich: “Fährt der Zug nach Chemnitz?” Der Polizist, Augenbraue nach oben ziehend: “Nehme ich doch an.” Ich eloquent: “Dann nehmen wir mal an, dass ich nach Chemnitz möchte.” Der Grüne: “Und, wollen Sie dort zum Fußball?” Meine Parade: “Was geht Sie mein Reisegrund an?” Er, mit einem Anflug leichter Gereiztheit: “Wollen Sie nun zum Fußball oder nicht?” Ich, leicht einknickend: “Mal sehen, wenn nichts anderes los ist in der Stadt…” Er wollte nun zur Sache kommen, doch ich gab mich noch nicht geschlagen: “Mal im Ernst, auch wenn ich in Chemnitz zum Fußball wollte, wieso wollen Sie mich in Leipzig abtasten? Auf welcher Grundlage lassen Sie mich hier 30 Minuten lang warten?”
Der Zug hätte längst die Reise nach Chemnitz angetreten, wäre er pünktlich in Leipzig angekommen. Doch die Gleise waren glücklicherweise noch leer – auch 20 Minuten nach Abfahrtstermin. Verspätung… Zwischenzeitlich hatte Clemens Meyer neben mir nicht nur unbeanstandet passieren dürfen, er hatte von einem der „Grünen“, der ihn erkannt hatte, sogar ein fettes Lob kassiert: “Gutes Buch!” Grinsend verharrte er hinter Kette, um nach dem Fortgang meiner Diskussion mit dem „Abtaster-Bullen“ zu schauen. Der hatte inzwischen mächtig mit seiner Contenance zu kämpfen, wusste aber noch nicht so recht, wie er mich behandeln sollte – so freundlich und bestimmt ich mit ihm meine kleine Diskussion führte. Also rief er nach Hilfe. Eine Art Aufseher, wie mir schien, der das Treiben hinter der Polizisten-Kette mit verfolgte, gesellte sich zu uns. „Was ist denn los?“ Mein Vernehmer erläuterte ihm die Lage relativ neutral, schickte aber den Satz vorweg, ich weigere mich, mich untersuchen zu lassen. Das ließ ich nicht auf mir sitzen und ich korrigierte sanft, aber bestimmt, ich wolle nur den Grund für diese mir übertrieben scheinende Behandlung wissen. Der Aufseher erklärte das Betreiben daraufhin mit einer „besonderen Situation“, und dass er das dann als Führer seiner Einheit anordnen dürfe. Mit Blick auf die an der Seite durchschlüpfenden „Normalbürger“ fragte ich ihn, was ICH mit dieser besonderen Situation denn zu tun hätte, woraufhin mir erneut die Frage nach dem Fußballspiel gestellt wurde. Jetzt hatte ich ihn. Jetzt brauchte ich nur noch „Nein“ zu hauchen, und schon würde er seinen mit Plastikschienen, Schulterpolster und schussicherer Weste verzierten Körper ein klein wenig zur Seite drehen und mir den unbehelligten Vorbeischlupf anbieten müssen. Ich hätte gewonnen! Aber das wollte ich gar nicht, denn eigentlich nervt mich ja nur, warum Fußballfans so undifferenziert und allgemeingültig behandelt werden. Weil wir keine Einkaufstaschen trugen, ein Fahrrad schoben oder wie pubertierende Schüler auf dem Weg nach Hause aussahen, müssen wir uns einer polizeilichen Maßnahme betreffs „besonderer Situation“ unterziehen?
Wege und Mittel, sich dieser gleichmachenden Behandlung zu unterziehen, kenne ich schon lange. Schließlich habe ich, wie meine Freunde auch, etliche hundert Auswärtsspiele auf dem Buckel. Da weiß man, wie man trotz verbarrikadierter Ortschaften eine Kneipe mit Bierausschank findet, wie man unbehelligt von Polizeikessel und misstrauischen Zivilkräften seinen Weg durch die Gemeinde ins Stadion findet und wo man im Zug abseits der oft misslichen Zustände in den überfüllten und nervig lauten Abteilen seine Fahrt nach Hause genießen kann. Aber darum ging es in diesem Fall ja gar nicht. Schließlich hatte ich schon 30 Minuten im Gedränge verbracht und geduldig darauf gewartet, auf den Bahnsteig zu gelangen. Die Frage, wie man bei einem einfahrenden Zug reagiert hätte, wenn die noch vor der Barriere stehenden und nicht abgefertigten, sprich untersuchten Fans unruhig geworden wären und mit Gedränge und Geschiebe reagiert hätten, stellte sich glücklicherweise nicht real. Einen Plan hatten die vor Ort handelnden Polizeistrategen sicher in der Tasche. Gut ausgesehen hätten sie dabei kaum.
Ich beschloss also, mich als moralischer Sieger des kleinen Verbalscharmützels großzügig und vor allem ehrlich zu zeigen und antwortete als mit Ja. Ja, ich wolle zum Fußballspiel nach Chemnitz, und ja, er könne mich jetzt untersuchen, auch wenn das lächerlich sei, und ja, ich sehe ein, dass er ja nicht in jeden hineinschauen könne, und ja, er mache ja auch nur seinen Job, und ja, ich wolle auch nicht in seiner Haut stecken… Halt, so weit ging ich dann doch nicht. Er hat sich seinen Beruf ja immerhin aussuchen können. Er machte das hier freiwillig.
Dafür negierten wir den nächsten verallgemeinernden Befehl der Schutztruppe, als wir als offensichtliche Fußballfans am Betreten einer Reihe Waggons am Zugende des endlich eingetroffenen Regionalexpresses nach Chemnitz gehindert werden sollten. Wir ließen einen uns mit ausgebreiteten Armen entgegeneilenden Bahner, der uns offensichtlich am weitergehen hindern wollte, einfach links stehen und stellten uns gesittet und höflich am Einstieg an. Es war auch im Waggon der „zivilen Mitreisenden“ so voll, dass wir erst dachten, wir kommen gar nicht in den Zug. Das lag aber wieder an der strategisch weitsichtig handelnden Polizei, die einen ganzen Waggon zwischen Fußballfans und harmlosen Mitreisenden als eine Art „Pufferzone“ nutzten. In genau diesen schoben wir uns, als wir schließlich glücklich ins Innere des Zuges gequetscht worden waren. Und so hatten wir – erfahrene Auswärtsfahrer! – sogar Sitzplätze, während sich in den überfüllten Waggons ringsum die Menschen fast stapelten. Nur die mächtigen Polizeihelme der Beamten, die sich im Mittelgang einander auf die Füße traten, drückten ein wenig. Aber sonst ging es. Ein wenig hin und her noch, und schon ging die Fahrt los. Chemnitz, wir kommen! Der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung, nahm langsam Fahrt auf. Doch nach zwanzig Metern war schon wieder Schluß. Notbremse! Wir standen wieder. Und erneut zogen sich die Minuten hin. Bis zum Anstoß blieb uns nicht mehr lange, und anderthalb Stunden Zugfahrt standen uns auch noch bevor. Und nun drehte sich sprichwörtlich kein Rad! Die Jungs wurden nervös, Wolle fragte laufend nach der Uhrzeit und auch Clemens rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.
Also hieß es plötzlich: raus! Aussteigen! Den schönen Platz einfach so hergeben. Ich wollte erst nicht so recht, musste mich der geballten Gruppendynamik aber beugen. Also wieder drängeln, drücken und schieben und raus aus dem Zug. Sollten die doch allein sehen, wie sie nach Chemnitz gelangen mit ihrem Notbremsen-Scheiß. Wir würden uns allein durchschlagen. Verwunderte Blicke begleiteten uns aus dem Zug heraus. Das verstand nun keiner, wo wir plötzlich hinwollten.
Auf dem Bahnhofsvorplatz ergab sich nun eine kurze und intensive Diskussion mit dem Fahrer eines Großraumtaxis. Dessen Fahrer, der auf den Namen Gerald hörte, erklärte sich schließlich bereit, uns für 100 Euro nach Chemnitz zu fahren. Preislich nicht uninteresssant für uns, da durch sechs Leute teilbar. Gesagt, getan – wir machten es uns gemütlich und trieben Gerald an. Denn es war knapp geworden in der Zwischenzeit. Doch schon die ersten Meter hätten uns eindeutig zu denken geben müssen. Denn Gerald wählte nicht die schnellste Route auf die Schnellstraße, die aus Leipzig herausführte, sondern chauffierte uns direkt durch die für jeglichen Autoverkehr gesperrte Innenstadt. Zwar konnten wir auf diese Weise manchen Bekannten durch die Autoscheiben grüßen, richtig voran aber brachte uns dieser Extratrip nicht. Gerald murmelte, von uns leicht nervös auf die gewählte Route angesprochen, irgendetwas von Stau und Vertrauen und Entspannung. Naja, schließlich ist ER ja der Taxifahrer und weiß sicher, was er tut. Dachten wir, vertrauten und entspannten. Bis zum Stau. Denn vor Borna war die neue Umfahrung in Betrieb genommen worden, auf der seither ein täglicher Megastau die Fahrt nach Chemnitz um ca. eine halbe Stunde verlängerte. Hatten wir nicht dran gedacht. Gerald auch nicht. Also standen wir unsere zusätzliche halbe Stunde im Stau vor Borna ab, schauten im Drei-Sekunden-Takt auf die Uhr, fluchten und versuchten, unser Vertrauen zu stärken. Als es endlich weiterging, sah es eine kurze Weile sogar nach Entspannung aus, denn es hätte durchaus noch klappen können mit einer halbwegs pünktlichen Ankunft im Chemnitzer Ground. Wir tranken unser letztes Bier und palaverten schon über die Siegchancen unseres ruhmreichen Teams, das in der Meisterschaft mal wieder einen heldenhaften und niemals gefährdeten Mittelfeldplatz belegte. Wolle zeigte vorbeifahrenden Automobilisten beim Herdenpinkeln sogar seinen Allerwertesten, was insofern bemerkenswert scheint, als Wolle dies noch niemals zuvor getan hatte. Der Spaßfaktor schien also ungefährdet auf dem aufsteigenden Ast. Doch dann kam der zweite Stau. Die Jahrhundertbaustelle an einer kleinen Bachbrücke in Zedtlitz hielt den Straßenverkehr – Infrastrukturmaßnahen müssen nun mal sein und gehen uns alle an – ein weiteres Viertelstündchen stressfrei. Langsam schwand unser Vertrauen wieder, Gerald schwitzte und laberte was von „das wird schon noch“ und schaute treuherzig in die Runde. Wir überlegten derweil, wen wir anrufen könnten, um das Endresultat zu erfahren, wenn da so weiterginge.
Um es abzukürzen: es ging so weiter, aber nur bis nach dem dritten Stau. In Neukirchen, gleich fünf Kilometer weiter, befand sich eine Fahrbahnhälfte in Sanierung. Das ist nun mal nicht in anderthalb Jahren zu schaffen, meinte Gerald, der danach aber mächtig Gas gab, uns eine schöne Landschaftsbesichtigung am Flüsschen Chemnitz durch das idyllische Chemnitztal anbot, direkt in die Stadt Chemnitz eindrang und auf Anhieb das richtige Stadion (Chemnitz bietet zwei) fand und uns dort pünktlich zur Halbzeit ablieferte. Unser unterwegs leider komplett verlorengegangenes Vertrauen sowie die längst entfleuchte Entspannung verbündeten sich mit dem Emotionszustand „Kalte Wut“, als wir auf die Anzeigetafel im Stadion blickten, wo ein 0:1-Rückstand unseres Teams angezeigt wurde. Zudem hatten wir erfahren, dass die Zugfahrer (die mit der Notbremse) es absolut pünktlich bis ins Stadion geschafft hatten, der Bahn sei Dank.
Die zweite Halbzeit bot nichts erwähnenswertes, Chemie fing wenigstens keines mehr und konnte stolz auf ein 0:0 in jener Hälfte zurückschauen, was am 0:1 aber nichts mehr ändern konnte. Beim Verlassen des Stadions bot ich Clemens an, mit dem Auto eines alten Kumpels nach Leipzig zurückzufahren, um den grausigen Tag so schnell wie möglich zu beenden. Doch fast schon entrüstet lehnte er ab: „Wir wollten doch eine Zugfahrt machen. Also fahre ich jetzt auch mit dem Zug zurück!“ Zuvor hatten auch Wolle, Ecki und Aurel abgelehnt. Fußball mit Chemie ist eben so.