Reisen mit Clemens Meyer3 min read
Von CLEMENS MEYER
Meine erste richtige Reise machte ich im Sommer 1997.
Augenblick, was ist eigentlich eine „richtige“ Reise? Rund um die Welt, nach New York, oder wenigstens Paris, Frankreich? Hab ich nicht auf meinen Reisen durch die ostdeutsche Provinz, meistens zu Auswärtsfahrten von Sachsen Leipzig, nicht mehr erlebt als manch einer bei der Besteigung des Kilimandscharo? (den Bullen, dem Bier und dem Pöbel sei dank) Und für manche Reisen hab ich nicht mal die Stadt verlassen, meistens waren das Expeditionen ins Herz der Finsternis, mit Goldkrone als Treibstoff. Entfernungen sind relativ – relativ unbedeutend.
Vielleicht macht das Alleinsein den Wert einer „richtigen“ Reise aus. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich reise gern in Gesellschaft, vor allem in Gesellschaft schöner Frauen.
1997 bin ich allein gereist, und welche Frau schläft schon gern auf Parkbänken, Bahnhöfen und in Hotelbetten, in denen man Schamhaare auf dem Kopfkissen findet. Einmal allerdings, auf der ersten Station dieser Reise, in Cordoba, Spanien, residierte ich im besten Hotel am Platz, einer Art Palast im orientalischen Stil, Haremsdamen inklusive, Swimmingpool im Zimmer und tausend quietschende Japaner, die mir das Gefühl gaben, in Tokio zu sein. Ein kleines Wort hatte mich da hingebracht. Caro. Nein, nicht die Zigarettenmarke und schon gar nicht der Landkaffee (Vorsicht, Schleichwerbung!).
Barato und caro, billig und teuer, blöd, wenn man das immer verwechselt, vor allem auf der Suche nach einem Hotel mit Schamhaaren auf dem Kopfkissen. Ein Tag Cordoba und die halbe Reisekasse war weg. Cara mia, ach ihren schönen Haremsdamen!
Die andere Hälfte der Reisekasse blieb auch bei einer Frau. Dunkelhaarig, Glutäugig, eine echte Spanierin, Nahkontakt zur Bevölkerung, da wurde ich gleich selbst zum Spanier. Wild gestikulierend, mit den Füßen schon Flamenco tänzelnd, erklärte ich ihr den Weg zum Bahnhof, caro und barato, Olè!
Nach fünf Minuten hatte ich nicht nur mein Herz verloren, sondern auch mein Gepäck, die Sache hätte mir gleich spanisch vorkommen müssen, eine Einheimische, die einen Touristen nach dem Weg fragt, und der Bahnhof war in Sichtweite!
Und jetzt begann meine Reise erst richtig. Ich war frei. Kein Geld, kein Pass, keine Frauen.
Nur ich und meine Knarre. Wieso Knarre, werden Sie jetzt fragen. Ganz einfach, ich bin der festen Überzeugung, Reisen ist gefährlich, und man sollte immer, ein Messer, eine Handgranate, einen Knüppel oder eben eine Knarre dabei haben. Die Freiheit muss verteidigt werden. Allerdings sollte man mit den Reisewaffen nicht allzu sorglos hantieren, zumindest nicht in geschlossenen Räumen, und schon gar nicht in Luxushotels. Haben Sie schon mal tausend Japaner zum Rennen gebracht? Ein Schuss reicht!
Und nachts am Strand unter den Sternen fühlten wir uns frei, meine Knarre und ich, wir wollten uns lange Bärte wachsen lassen, wir wollten leben wie Diogenes in seiner Tonne, allerdings mit Wein, Rioja gran reserva, wir wollten nie mehr zurückkehren. Wir wanderten von Malaga nach Granada, von Granada nach Valencia, von Valencia nach Barcelona. Wir waren dann mal weg.
Warum ich wieder da bin?
Ganz einfach: Chemie. Nein, nicht das Schulfach und auch keine synthetischen Drogen. Mein Fußballverein Chemie Leipzig, der seit der Wende Sachsen Leipzig heißt und beständig zwischen der 3. und 4. Spielklasse pendelt. Auswärtsspiele in der Provinz! Freche Bullen, die in die Schranken gewiesen werden müssen (verbal versteht sich)!
Verpasste Aufstiege, Lizenzentzüge, Insolvenzen. Sind das nicht die wahren Reisen, die großen Geschichten? New York kann auch in Plauen sein.
Good bye, hasta luego, auf Wiedersehen. Vielleicht treffen wir uns mal auf einer Reise.
Dieser Text wird hier erstmals schriftlich veröffentlicht. Vielen Dank, Clemens!
Clemens Meyer, Schriftsteller aus Leipzig, gewann den Buchpreis der Leipziger Buchmesse (2008; “Die Nacht, die Lichter”). Debüt mit “Als wir träumten”; 2006. Freund der Satire und deshalb auch von Chemie Leipzig und des FC Sachsen Leipzig.